Donnerstag, 7. Februar 2013

Edgar Hilsenrath | Nacht

Niemand kennt Edgar Hilsenrath, nicht mal hier in Leipzig, wo er geboren wurde. Ich selbst kenne ihn nur durch eine Lesung im Musée d‘art et d’histoire du Judaïsme in Paris 2009. Ein alter Mann, gestützt von einem jüngeren, betritt die Bühne. Er erklärt, dass er nur schlecht Französisch spricht, in gutem Französisch erklärt er das. Fuck America erscheint gerade in Frankreich, Edgar Hilsenrath liest daraus und aus anderen Texten. Eingeprägt hat sich einer, in dem ein Mann eine Zufallsnummer wählt und nach dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika verlangt. Zufällig ist eben genau der am Apparat, ein absurder Dialog entwickelt sich, herrlich vorgelesen von Edgar Hilsenrath. Von Der Nazi und der Friseur oder vom Moskauer Orgasmus habe ich zu dem Zeitpunkt noch keine Ahnung, auch nicht von Nacht. Ich sehe nur einen grauhaarigen Mann, der verschmitzt Texte liest, wie sie in der deutschen Sprache so selten sind. Absurd, witzig, obszön auch, richtig gut. Ich habe noch nie einen alten Mann „ficken“ sagen hören, ohne dass er mit der Wimper zuckt und ohne dass es in irgendeiner Art albern wäre.

Nacht ist nicht witzig, niemals, in keinem Moment, obszön ist es hier und da, es ist ein eindimensionales Buch, es ist dunkel, ausschließlich und in jeder Pore ganzganz finster. Ein rumänisches Ghetto zu Beginn der vierziger Jahre. Überlebenskampf übelster Sorte, Leichen auf der Straße, sie werden nur wahrgenommen, wenn man ihre Schuhe noch gebrauchen kann. Um sie gegen Maisbrei oder Kartoffeln einzutauschen. Man wird das Essen nur ungern mit seinen Nächsten teilen.

„Dann trat er hinaus in die Nacht.“ Er heißt Ranek, er ist ein Schwein. Alle sind Schweine, außer Deborah, außer der kleinen Ljuba und außer den Huren: „Sie sind die gutmütigsten Menschen, die ich bisher kennengelernt habe.“ Nur Deborah wird am Ende noch leben. Ranek hat keine Schuhe, selten was zum Essen. Als er einmal etwas Glück hat (drei Goldzähne aus dem Mund eines Toten), wird er bestohlen und verprügelt. Er schlägt später selbst seinem toten Bruder den Kiefer zu Brei, mit einem Hammer, um ihm den Goldzahn zu ziehen, damit es kein anderer macht. Skrupel sind in dieser Geschichte nur hinderlich, im Sinne von: tödlich. Im Roman heißt es: „Für Mitleid war kein Raum. Nicht unter diesen Umständen. Wer krank war, sollte sterben.“ Ranek ermahnt seine Schwägerin Deborah: „Es wird höchste Zeit, daß du dich mal an deine Umgebung gewöhnst und aufhörst, über sie nachzudenken.“ Sie denkt nämlich noch an ihre Mitmenschen, hilft, teilt, was die anderen längst vergessen haben. Sie suchen nur noch nach etwas zum Essen, nach einem Stück Fußboden in einer Ruine, wo sie schlafen können, wenigstens für eine Nacht. Was morgen ist, ist heute egal.

Sehr spät im Roman sagt eine Figur: „Und ich hab‘ mich ein bißchen gewundert, wissen Sie. Aber dann hab‘ ich zu mir gesagt: Glück gibt es auch hier bei uns. Es gibt noch das Glück der Frierenden, die eine Decke finden. Und das Glück der Hungrigen, die Brot finden. Und das Glück der Einsamen, die Liebe finden.“ Daran mag in Nacht sonst niemand glauben und man steht nach 700 Seiten da und fragt sich, ob dieses Buch nicht vielleicht noch trostloser ist als Célines Reise ans Ende der Nacht. Genau, dessen Tod auf Kredit könnte man doch jetzt endlich mal angehen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen