Niemand kennt Edgar
Hilsenrath, nicht mal hier in Leipzig, wo er geboren wurde. Ich selbst kenne
ihn nur durch eine Lesung im Musée d‘art et
d’histoire du Judaïsme in Paris 2009. Ein alter Mann, gestützt von einem
jüngeren, betritt die Bühne. Er erklärt, dass er nur schlecht Französisch spricht,
in gutem Französisch erklärt er das. Fuck
America erscheint gerade in Frankreich, Edgar Hilsenrath liest daraus und
aus anderen Texten. Eingeprägt hat sich einer, in dem ein Mann eine
Zufallsnummer wählt und nach dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von
Amerika verlangt. Zufällig ist eben genau der am Apparat, ein absurder Dialog
entwickelt sich, herrlich vorgelesen von Edgar Hilsenrath. Von Der Nazi und der Friseur oder vom Moskauer Orgasmus habe ich zu dem
Zeitpunkt noch keine Ahnung, auch nicht von Nacht.
Ich sehe nur einen grauhaarigen Mann, der verschmitzt Texte liest, wie sie in
der deutschen Sprache so selten sind. Absurd, witzig, obszön auch, richtig gut.
Ich habe noch nie einen alten Mann „ficken“ sagen hören, ohne dass er mit der
Wimper zuckt und ohne dass es in irgendeiner Art albern wäre.
Nacht ist
nicht witzig, niemals, in keinem Moment, obszön ist es hier und da, es ist ein
eindimensionales Buch, es ist dunkel, ausschließlich und in jeder Pore ganzganz
finster. Ein rumänisches Ghetto zu Beginn der vierziger Jahre. Überlebenskampf
übelster Sorte, Leichen auf der Straße, sie werden nur wahrgenommen, wenn man
ihre Schuhe noch gebrauchen kann. Um sie gegen Maisbrei oder Kartoffeln einzutauschen.
Man wird das Essen nur ungern mit seinen Nächsten teilen.
„Dann trat er hinaus
in die Nacht.“ Er heißt Ranek, er ist ein Schwein. Alle sind Schweine, außer Deborah, außer der kleinen Ljuba und
außer den Huren: „Sie sind die gutmütigsten Menschen, die ich bisher
kennengelernt habe.“ Nur Deborah wird am Ende noch leben. Ranek hat keine
Schuhe, selten was zum Essen. Als er einmal etwas Glück hat (drei Goldzähne aus
dem Mund eines Toten), wird er bestohlen und verprügelt. Er schlägt später
selbst seinem toten Bruder den Kiefer zu Brei, mit einem Hammer, um ihm den
Goldzahn zu ziehen, damit es kein anderer macht. Skrupel sind in dieser
Geschichte nur hinderlich, im Sinne von: tödlich. Im Roman heißt es: „Für
Mitleid war kein Raum. Nicht unter diesen Umständen. Wer krank war, sollte
sterben.“ Ranek ermahnt seine Schwägerin Deborah: „Es wird höchste Zeit, daß du
dich mal an deine Umgebung gewöhnst und aufhörst, über sie nachzudenken.“ Sie
denkt nämlich noch an ihre Mitmenschen, hilft, teilt, was die anderen längst
vergessen haben. Sie suchen nur noch nach etwas zum Essen, nach einem Stück
Fußboden in einer Ruine, wo sie schlafen können, wenigstens für eine Nacht. Was
morgen ist, ist heute egal.
Sehr spät im Roman
sagt eine Figur: „Und ich hab‘ mich ein bißchen gewundert, wissen Sie. Aber dann
hab‘ ich zu mir gesagt: Glück gibt es auch hier bei uns. Es gibt noch das Glück
der Frierenden, die eine Decke finden. Und das Glück der Hungrigen, die Brot
finden. Und das Glück der Einsamen, die Liebe finden.“ Daran mag in Nacht sonst niemand glauben und man
steht nach 700 Seiten da und fragt sich, ob dieses Buch nicht vielleicht noch
trostloser ist als Célines Reise ans Ende
der Nacht. Genau, dessen Tod auf
Kredit könnte man doch jetzt endlich mal angehen.
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